Für mich ist Kurdistan so ein fernes, exotisches Land, das ich von Karl May kenne. Ich habe schon was über den Konflikt zwischen Kurden und der Türkei gehört und weiß ungefähr, wo das liegt. Das war’s dann auch schon.
Das ist natürlich etwas dünn, aber wie es so ist: da nimmt man sich vor, mal mehr drüber zu lesen, dann ist es uninteressant oder zu lang, irgendwas ist halt immer.
Heute ist mir der Text “Vor Ort beim Kurdistan Referendum” von Enno Lenze in die Hände gefallen, hochinteressant. Kein umfassender Abriss eines Landes, aber genug Einsicht und Information, um wirklich mal tiefer zu schauen, was mit den Jesiden los ist (Karl May lässt wieder grüßen), wer die Peschmerga sind etc. Und auch, zu schauen, ob die geschilderten Eindrücke einseitig sind, wie die Lage derzeit ist, was die Türkei damit zu tun hat…
Neben Dohuk liegt der Ort Khanke, in dem das gleichnamige Flüchtlingscamp für Jesiden liegt. Die meisten hier sind nach dem 74. Genozid aus Shingal geflohen.
Der 74. Genozid!
Wie alle diese Projekte ist es hoffnungslos unterfinanziert. Auch hier muss von einem Tag zum anderen gewirtschaftet werden. […] Das ganze Waisenhaus kostet ca. 10.000€ pro Monat.
[…]
Einer der Jungen kam oft an und erzählte uns etwas und ging wieder. […] Er war gerade fünf Jahre alt und musste bereits erleben, wie seine Eltern vom IS ermordet wurden. Er wurde von jesidischen Peschmerga befreit. […] Wie man diese Kinder wieder in ein normales Leben zurück führen kann, ist ziemliches Neuland.
[…]
Die andere Kinder haben alle ähnliche Geschichten. Sie wirken fröhlich, haben Spaß, aber in ihrem Kopf schlummern ganz düstere Erinnerungen. Ein Mädchen erzählt, dass ihre Schwester zerfetzt wurde und in einer Mülltüte mitgenommen wurde, um ihr eine würdige Beerdigung zu ermöglichen. Für die Kinder ist das eine ganz normale Welt – sie kennen es nicht anders. Was ich mich immer frage ist: Was kann ich für sie tun? Da sind es oft die kleinen Dinge. Da die Grundversorgung bei ihnen funktioniert, wollten wir sie zu einem Essen ihrer Wahl einladen. Einfach, damit der Tag für sie einen schönen Abschluss hat und sie mal etwas anderes machen.
[…]
Neben so schrecklichen Orten gibt es nur ein paar Minuten entfernt einen Freizeitpark mit Achterbahnen, Zuckerwatte und Seilbahn. Etwa so schlagartig, wie die Themen nun in diesem Text gewechselt haben, geschieht es auch vor Ort, wenn man durch die Straßen läuft oder sich mit den Menschen dort unterhält. Man gewöhnt sich irgendwann daran. “Wenn du nicht auf die Achterbahn gehst, steht davon auch niemand wieder von den Toten auf” – sagte man mir hier schon öfters. Die Menschen hier haben gelernt, mit diesem unglaublichen Leid umzugehen.